Um 1800 lebten mehr als 75 % der Liemer Dorfbewohner, vor allem die besitzlosen Einlieger und die Besitzer kleiner Stätten, von der Handweberei und –spinnerei. Durch die Erfindung der Spinnmaschi-ne (1764) und des mechanischen Webstuhls (1784), die von Napoleon I. von Frankreich verhängte Kontinentalsperre (1806) und die zunehmende Konkurrenz der Baumwollerzeugnisse verlor das Lei-nengewerbe in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine bisherigen Absatzmärkte und der Verfall des Gewerbes war unaufhaltbar.

Für die hiervon betroffenen Dorfbewohner bot sich nur eine Möglichkeit des Überlebens: die Arbeit als Torfstecher, als Grasmäher oder vor allem als Ziegler in der Fremde. Die Zahl der Wanderarbeiter stieg von etwa 50 im Jahr 1800 sehr schnell bis auf 350 im Jahr 1880. Um 1900 waren etwa 35 – 40 % aller berufstätigen Liemer Männer als Ziegler in der Fremde tätig.

Von besonderer Bedeutung für diesen Aufschwung des Zieglerwesens war das sogenannte Anneh-mersystem. Die Ziegelmeister übernahmen auf eigene Rechnung eine Ziegelei, warben die notwendi-gen Ziegler an und erhielten vom Ziegelherrn eine feste Summe pro Tausend erzeugter Ziegelsteine oder Dachziegel. Zum Schluss wurde der Gesamtverdienst nach einem vorher vereinbarten Schlüssel unter den Zieglern aufgeteilt. Der Unternehmungsgeister der Ziegelmeister – in Lieme gab es zeitwei-lig mehr als 45 – erschloss immer neue Arbeitsstellen im Reichsgebiet und auch im Ausland. Liemer Ziegler haben in Nord-, West-, Mittel- und Südwestdeutschland, aber auch in Dänemark, Schweden, Russland und in den Niederlanden gearbeitet.

Die Arbeit in der Fremde zahlte sich für das Dorf und seine Bewohner durchaus aus. Die Ziegler brachten alljährlich große Summen Geld mit nach Hause. Aus dem verarmten Dorf der Tagelöhner, Spinner und Weber wurde bald ein relativ wohlhabendes Zieglerdorf.

Mit steigendem Einkommen entwickelten die Ziegler ein erstaunliches Selbstbewusstsein. Sie gründe-ten eigene Berufsorganisationen und Vereine und stellten sogar eigene Wählerlisten auf. In diesem Zusammenhang muss auch die Gründung des Zieglervereins Lieme betrachtet werden.

Die Gründung der Ziegler- Unterstützungskasse Lieme

Im Frühjahr 1889 beauftragte eine Versammlung von Liemer Zieglern einen Ausschuss unter Vorsitz des Landwirts Fritz Hose mit den Vorbereitungen für die Gründung einer Ziegler- Hilfs- und Unterstüt-zungskasse in Lieme.


Der Ausschuss erarbeitete ein Kassenstatut, dass am 01.08.1889 der Regierung in Detmold über den Amtmann in Brake zur Genehmigung vorgelegt wurde. Das Amt hatte dem Ausschuss „wegen der großen Zahl schon bestehender (Ziegler-) Krankenkassen“ dringend von der selbständigen Kasse ab-geraten und den Anschluss an eine schon bestehende Kasse empfohlen, die Liemer Interessenten beharrten jedoch auf ihrem Plan und lehnten den Vorschlag des Amtes ab. Am 24.09.1889 genehmig-te die Regierung in Detmold die neue Kasse, die den Namen „Unterstützungskasse des Lippischen Ziegler- Vereins Lieme“ erhielt und am 01.01.1890, unter Vorsitz von Landwirt Fritz Hose ihre Tätigkeit aufnahm.

Was die Liemer Ziegler zu der Gründung einer eigenen Hilfskasse veranlasste, obwohl von Seiten der Aufsichtsbehörden davon abgeraten wurde, sei kurz geschildert: Da die Ziegler ihren Arbeitsplatz in der Regel häufig wechselten, hätten sie sich bei den Allgemeinen Ortskrankenkassen ihrer jeweiligen Beschäftigungsorte immerzu an- und abmelden müssen. Darüber hinaus waren sie jeden Winter meh-rere Monate lang arbeitslos, eine Zeit, in der die Versicherungspflicht entfiel. Um den fortwährenden Wechsel der Krankenkasse zu vermeiden, wurden in Lippe seinerzeit insgesamt 29 Zieglerkranken-kassen gegründet.

Diese Zieglerkrankenkassen arbeiteten mit geringem Verwaltungsaufwand, waren ortsnah und konn-ten so von ihren Mitgliedern genau kontrolliert werden. Die Kassengeschäfte führte ein nebenamtli-cher Geschäftsführer, der nicht als Ziegler arbeitete und so jederzeit erreichbar war.

Die Ziegler meldeten sich vor ihrer Abreise im Frühjahr bei der Zieglerkrankenkasse an und zahlten im Herbst ihre Beiträge entsprechend des Verdienstes. Später überwiesen die Ziegelmeister die Beträge der bei ihnen beschäftigen Ziegler monatlich an die Kasse. In Krankheitsfällen konnten Angehörige sich die Krankenscheine vom Geschäftsführer holen. Bei Bedarf wurden sie den Zieglern per Post an ihren Beschäftigungsort nachgeschickt.

Die Kasse war aufgrund ihrer überschaulichen Verwaltung und Geschäftsführung sehr beliebt bei den Zieglern, außerdem flossen alle eingezahlten Gelder wieder an das Dorf zurück.

Der Beitrag war mit 0,75 – 1,00 Mark pro Monat in den Jahrzehnten vor dem ersten Weltkrieg sehr ge-ring.

Die Zieglerkrankenkasse Lieme bestand bis 1921. Aufgrund neuer gesetzlicher Vorschriften und des Rückgangs der Mitgliederzahl schloss sich die Ziegler- Krankenkasse Lieme im Jahre 1921 mit den Ziegler- Kassen Blomberg, Bösingfeld, Großenmarpe, Haustenbeck, Heidenoldendorf, Lüdenhausen, Leopoldshöhe, Schlangen und Stemmen zur Zieglerkasse (Ersatzkasse) Blomberg zusammen. Seit dieser Zeit bestand in Lieme nur noch eine Verwaltungsstelle, die von dem ehemaligen Geschäftsfüh-rer Diekmann geführt wurde. 1937 wurde die Zieglerkasse aufgelöst und in die Allgemeine Ortskran-kenkasse überführt.

Die Neugründung des Zieglervereins Lieme

In den ersten Jahren nach ihrer Gründung war die Unterstützungskasse zugleich Liemer Zieglerverein wie auch Krankenkasse der Liemer Ziegler. Bis zum Jahre 1893.

Am 28.12.1892 beschloss die Generalversammlung der Ziegler- Unterstützungskasse nämlich, auch solche Ziegler in die Kasse aufzunehmen, die ihren Wohnsitz nicht in Lieme hatten. Damit verlor die Unterstützungskasse ihren Charakter als eine reine Liemer Organisation.

Im Jahre 1894 errichtete der Gastwirt Adolf Steinmeyer den noch heute vorhandenen Saal des Liemer Kruges, welcher dem Vereinsleben in Lieme starke Impulse gab. So wurde im Frühjahr 1894 ein selb-ständiger Zieglerverein Lieme neben der Ziegler- Unterstützungskasse Lieme ins Leben gerufen. Am 10.02.1894 fand die Gründungsversammlung des Vereins statt.


Die Lippische Landes- Zeitung berichtete darüber in ihrer Ausgabe vom 13.02.1894:

„Auch hier am Orte (in Lieme) ist ein Ziegler- Verein gegründet und fehlt nur noch die Genehmigung der zuständigen Behörde, welche man der Nützlichkeit solcher Vereine wegen wohl mit Gewissheit erwarten kann. Als Vorstandsmitglieder wurden gewählt:

Die Ziegelmeister Wilhelm Moritz


Karl Adam


Heinrich Gronemeier


Ernst Starke


Ernst Hoppe jun.


und der Ziegler August Hovemann jun.“

Über das 1. Stiftungsfest des Zieglervereins am 26.12.1894 wurde in der LLZ ebenfalls berichtet:

„Dass sich hier (in Lieme) ein Zieglerverein gebildet hat, dürfte wohl in Kreisen, welche sich für Derar-tiges interessieren, bekannt wein. Dass aber der Verein in der kurzen Zeit seiner Existenz sich auf 110 Mitglieder emporgeschwungen hat, kann nur der verstehen, welcher unsere örtlichen Verhältnisse kennt, wo fast alles, mit Ausnahme der allerdings auch reichlich genug vertretenen Handlungen, Handwerker und der wenigen Landwirte, ausschließlich aus Zieglern besteht und wohl der größte Zieglerort des Landes ist. Leider hat sich der Ausfall der letzten Kampagne für unsere Ziegler weniger günstig gestaltet, woran die so sehr ungünstige Witterung und die flaue Geschäftslage im Allgemeinen Schuld war.

Auch werden dieselben schon zuweilen durch Ausländer, Holländer, Belgier usw. Geschädigt und verdrängt. Doch in welcher Branche fehlt nicht heute die Konkurrenz?“

Schon bald nach der Gründung rief der Zieglerverein neben der bestehenden Ziegler- (Kranken-) Un-terstützungskasse zwei weitere Selbsthilfeeinrichtungen ins Leben: die Kameradschaftshilfe zur Un-terstützung unverschuldet in Not geratener Mitglieder und die Sterbeunterstützung zur Unterstützung von Hinterbliebenen verstorbener Mitglieder. Beide wurden aus Vereinsbeiträgen und sonstigen Ver-einseinnahmen finanziert.

Der 1. Weltkrieg brachte das Vereinsleben weitgehend zum Erliegen. 20 Vereinsmitglieder fielen dem Krieg zum Opfer. Ihnen und allen anderen Toten des 1. Weltkrieges errichtete der Verein gemeinsam mit anderen Vereinen des Dorfes im Jahre 1921 das Kriegerehrenmal auf dem Friedhof zu Lieme. Für diesen Zweck stellte der Vorstand einen Betrag von 500,00 Mark zur Verfügung.

Zwischen den beiden Weltkriegen

Im Jahre 1919 begann der Verein seine Arbeit mit 67 Mitgliedern aufs neue. Im nächsten Jahr gab es 54 Neueintritte, ein Beweis für die weiterhin ungebrochene Anziehungskraft des Vereins. Ab 1923 verzeichnete man jedoch einen Mitgliederrückgang, der auf zwei Ursachen zurückzuführen ist: Die insgesamte Abnahme der Wanderarbeit (in Lieme sank die Zahl der Ziegler von 255 im Jahre 1905 auf 185 im Jahre 1923) einerseits und die Inflation, die die Wanderarbeiter besonders hart traf, zum anderen.

Dieser Rückgang des Zieglergewerbes, welcher von der Lippischen Landesregierung unter Heinrich Drake bewusst angestrebt worden war, zwang den Zieglerverein, sich auch Nichtzieglern zu öffnen, was durch die neue Satzung vom 27.11.1926 geschah.

Das gewachsene politische Selbstbewusstsein der Ziegler zeigte sich nach Gründung der Weimarer Republik darin, dass der spätere Vereinsvorsitzende Fritz Wiemann in den Jahren 1921 und 1925 auf der Liste der Ziegler für den Lippischen Landtag und 1924 sogar für den deutschen Reichstag kandidierte, allerdings ohne Erfolg.

Bei der Neuwahl des Gemeindeausschusses der Gemeinde Lieme am 25.01.1925 stellten die Ziegler bzw. Wanderarbeiter eine eigene Liste auf und errangen fast 40 % der Wählerstimmen und damit 7 Sitze (von 18) in der Gemeindevertretung.

Der 2. Weltkrieg unterbrach wiederum die Vereinsarbeit. Aufgrund der steigenden Anzahl gefallener Mitglieder musste die Zahlung der Sterbeunterstützungen im Jahr 1940 eingestellt werden. Unter den Gefallenen war auch der ehemalige Vorsitzende August Beermann.

Wie alle anderen deutschen Vereine wurde auch der Zieglerverein 1945 durch Kontrollratsbeschluss aufgelöst und verboten. Erst im Jahre 1947 konnte er neu gegründet werden.

Nach dem 2. Weltkrieg

Die erste Jahreshauptversammlung nach dem 2. Weltkrieg wurde im Januar 1947 abgehalten. Der alte Vorstand mit G. Gronemeier als erstem Vorsitzenden, H. Wüstenbecker als zweitem Vorsitzenden, Frau Wieseler sen. als Kassierer und E. Heiligenstühler als Schriftführer wurde erneut mit der Leitung des Vereins betraut.

1952 übernahm dann Wilhelm Rumke den Vorstandsvorsitz. Seine Nachfolger waren Wilfried Brodbeck (1977 – 1991) und Reinhard Lehmeier (seit 1991). Die Mitgliederzahl des Zieglervereins beträgt heute ca. 280, er ist damit, nach dem VfL Lieme der zweitgrößte Verein.

Die Kameradschaftshilfe für unverschuldet in Not geratene Mitglieder wurde auch nach dem 2. Weltkrieg noch fortgeführt. Da es sich hierbei jedoch lediglich um Zuschüsse aus Mietgliedsbeiträgen handelte, konnten dies natürlich nur kleinere Beträge sein.

In den Jahren von 1937 bis 1953 wurden Zuwendungen von jeweils 20 bis 50 Mark pro Einzelfall gewährt.

In der Jahreshauptversammlung 1953 beschloss man dann, aufgrund der inzwischen wesentlich verbesserten Sicherung des Einzelnen in der Bundesreublik Deutschland, die Kameradschafthilfe in der bisherigen Form einzustellen. Seit dieser Zeit werden aus besonderen Anlässen Präsente an langjährige Vereinsmitglieder gewährt.

Die Sterbeunterstützung für Angehörige verstorbener Vereinsmitglieder wurde bis 1950 ebenfalls aus Mitgliederbeiträgen und sonstigen Vereinseinnahmen gezahlt. Ab 1951 wurde dann eine selbständige Mitglieder- Sterbeunterstützungskasse eingerichtet, die sich nach dem Umlageverfahren aus Sonderbeiträgen der Vereinsmitglieder finanzierte. 1961 verlangte das Versicherungsaufsichtsamt des Kreises Lemgo, dass die Mitglieder- Sterbeunterstützungskasse zu einem Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit mit festen Beiträgen und einem Rücklagefonds „zur Sicherung der dauernden Erfüllbarkeit aller Verpflichtungen“ ausgestaltet werden sollte. Die Jahreshauptversammlung beschloss darauf hin am 13.01.1963 jedoch die Auflösung der Mitglieder- Sterbeunterstützungskasse, da die Führung des verlangten Versicherungsvereins mit erheblichem Verwaltungsaufwand verbunden gewesen wäre.

Der Zieglerverein Lieme ist heute kein Verein der Ziegler mehr, denn den Beruf des Zieglers und die Wanderarbeit gibt es heute in Lippe nicht mehr. Auch seine Funktion als Selbsthilfeorganisation hat der Verein durch die Entwicklung der Sozialgesetzgebung verloren.

Zwei Aufgaben sind jedoch noch immer geblieben und diese rechtfertigen die Existenz des Zieglervereins heute und auch in Zukunft:

die Traditionspflege und

die Aufgabe, ein Kristallisationspunkt der Geselligkeit für Menschen aller Schichten und Berufe des Dorfes zu sein.

(Quelle: F. Starke – „Lieme – Eine Dorfgeschichte in Einzeldarstellungen“)